Trotzdem ich endlich eingeschlafen bin, wecken mich gegen 2:50 Uhr ziehende Schmerzen im rechten Fuß, so dass ich schlaftrunken ins Bad humpele und wie ein Süchtiger verzweifelt nach den Schmerztabletten greife. Ich kann danach zwar schlafen, aber am nächsten Morgen sind die Schmerzen immer noch sehr stark.
Ich bin irgendwie verärgert. Ein ganzes Jahr lang freue ich mich auf diesen Fahrradurlaub mit Krischan, seit sechs Jahren machen wir das ununterbrochen. Vielleicht liegt es am verflixten siebten Jahr, vor dem sich die Ehepaare weil oft fürchten, weil scheinbar erfahrungsgemäß von Pleiten, Pech und Pannen bedroht erscheint.
Ich denke zum ersten Mal über meine verfrühte Heimreise nach. Es macht keinen Sinn, mit totalen Schmerzen den Urlaub zu verbringen. Als Christian wach ist, spreche ich mit ihm darüber. Er denkt laut über eine Diagnose meiner Beschwerden nach, auf die ich nie gekommen wäre. Er meint, dass die Schmerzen vom Radfahren kämen und sich durch Druckstellen eine Art Sehnenscheidenentzündung am Fuß entwickelt hätte.
Ich muss erkennen, dass ich am liebsten mit meinen weich besohlten Mokassins Fahrrad fahre, und dies im Grunde schon das ganze Jahr über mache. Die Sohlen halten Druckstellen vom Pedal nicht von der Fußsohle fern, das muss ich zugeben. Und nach mittlerweile knapp 3000 Kilometer könnte sich das schon mal in Form von körperlichen Beschwerden auswirken.
Also stecke ich meine Mokassins in eine Plastiktüte und verpacke sie im Rucksack. Ich habe mir am Tage unserer Abreise in Dachau noch ein Paar Schlappen gekauft, einfach um am Abend nach langen Fahrten mal in einen anderen Schuh zu steigen. Ich prüfe deren Sohlen und stelle fest, dass sie wesentlich härter sind, als die der Mokassins.
Also: nochmals Schmerztabletten eingeworfen und nach einem guten Frühstück wieder auf das Rad. Ich gebe mir selbst noch Frist bis Stockholm. Wenn es dann nicht besser sein wird, fahre ich mit dem Zug nach Hause.
Die ersten Kilometer an diesem Tag sind eine Qual. Ich darf meinen Fuß außer der Trittbewegung kaum verändern, sonst schmerzt es arg. Dazu kommt, dass wir erst nicht aus der Stadt herausfinden.
Bei schönstem Wetter verirren wir uns zunächst in den Süden, von wo wir ja gestern schon gekommen sind. Ich schlage vor zu fragen, weil ich eben drei Männer in einem Garten stehen sah. Wir nähern uns dem Grundstück und winken den Männern zu. Einer eilt sofort herbei und ist der Lichtblick des Tages.
Mit viel Witz und Charme erklärt er uns den Weg aus der Stadt und gibt noch ein paar speziell schwedisch-kulturelle Details preis. Wir sollten uns an Ikea orientieren und danach würden wir am neuen Stadion des Fußballvereins in Kalmar vorbeikommen, auf das die Kalmaren (oder sagt man Kalmarener?) erheblich stolz seien. Ich vergesse nicht, mich zu erinnern und es auch zu sagen, dass mir der Name Kalmar aus der Europa League bzw. dem früheren UEFA-Pokal durchaus ein Begriff ist. Er sagt ganz stolz, dass zwar Kalmar nicht immer schwedischer Fußballmeister wird, sie aber für gewöhnlich immer europäisch vertreten wären.
Wir finden mit der Hilfe dieses freundlichen Schweden wirklich aus der Stadt und bewundern auch noch das neue Kulturgut Kalmars, das neue Stadion. Dann geht es wieder raus in die Natur.
Wieder sind wir auf der ganzen Fahrt überrascht von der Schönheit der Landschaft. Außerhalb der Ortschaften stehen zwar in regelmäßigen Abständen die Pippi-Langstrumpf-Häuser, in den Farben Rot und Gelb schwerpunktmäßig. Aber sie sind dann immer einige hundert Meter voneinander entfernt. Die guten Nachbarn sind nicht zu weit weg, von den Schlechten bekommt man auf jeden Fall nichts mit. Schön, wenn man so viel Platz zur Verfügung hat wie die Schweden. Um Freundschaften pflegen und Feindschaften versanden lassen zu können.
Die Wiesen, auf denen häufig Pferde weiden, werden nicht selten von Steinmauern voneinander getrennt. So stelle ich mir eigentlich die Landschaft Irlands vor, obwohl ich dort noch nie gewesen bin. Christian, Verfasser eines Reiseführers über Schottland und Inselkenner, klärt mich auf und meint, dass es wirklich Parallelen dazu gibt. Nur würden in Irland nicht Pferde sondern Schafe das Landschaftsbild prägen, und es gäbe weniger Wald auf der Insel und die Bäume würden auch nicht so hoch wachsen wie hier in Schweden.
Und all das kann ich erzählen, weil die Landschaft in Schweden im Gegensatz zu meiner eigenen Heimat den Blick auf Selbige freigibt. Während man in Bayern ab Mitte Juli durch Straßen reist, die von meterhohen grünen Wänden begrenzt werden, und die zur typisch bayerischen Scheuklappenkultur passen wie die Faust aufs Auge, habe ich heute nach ca. 500 Km Schwedendurchquerung das erste, kleine Maisfeld entdeckt. Mit diesem wird wahrscheinlich der Sommerbedarf an Zuckermais für schwedische Grillabende gedeckt. Es gibt auch hier Naturgasanlagen zur Erzeugung der immer wertvoller werdenden Energie. Aber anscheinend wird der Bedarf nicht durch den bei Hitze explodierenden, poppenden Mais gedeckt. Insgesamt eine Entscheidung, die für die Weisheit der Schweden spricht.
Wir fahren kilometerweit durch Waldgebiete, durch die sich die Straße wie ein grauer Strich zieht. Wenn wir auf Ortwegweiser stoßen, sind wir überrascht, dass das dann meistens nur ein oder zwei Häuser stehen und ich frage mich, wie weit viele Schweden wohl fahren müssen, um den täglichen Bedarf an Lebensmitteln zu kaufen. Auch gibt es vergleichsweise wenige Autos, die an uns entspannt vorbeifahren.
Wir kommen gut voran, in den schwedischen Wäldern sind wir vom Gegenwind gut beschützt, fahren durch die Städte Mönsteras und Oskarshamn. Alles begutachtenswerte Ortschaften, sogar mit der Möglichkeit in Supermärkten die Wasservorräte und das eine oder andere Eis oder Gebäck aus dem Keksregal zu kaufen. Es ist ja heiß und wir müssen immer wieder die Tanks auffüllen. Es läuft gut heute und gegen Abend fahren wir wieder auf der E 22. Da gibt es etwas mehr Verkehr, aber die Seitenstreifen sind meist so breit, dass ich ein gutes Gefühl habe.
Gegen Abend allerdings bekommen wir Hunger und es kommt und kommt keine Ortschaft mehr. Zwar Wegweiser dorthin, aber mit Kilometerangaben, die uns das Fürchten lehren und uns nicht vom eingeschlagenen Weg abbringen wollen. Dann – ca. 12 Km vor dem anvisierten Ziel – steht eine große Hamburgerhütte am Wegesrand. Ich bin mittlerweile ziemlich unterzuckert und kaufe mir sofort ein Waffel-Eis. Christian bestellt sich gleich ein Essen. Eine Art undefinierbares Kotelett mit Pommes und Salat. Er meint, das Kotelett wäre aus Lammfleisch. Nach einer Kostprobe habe ich eher das Gefühl, es handelt sich hierbei um gepresste Elefantensülze.
Ich selbst probiere einmal einen schwedischen Spezialhamburger mit Pommes. Komisch: unterm Fahren nehme ich mir immer vor, mich bestens zu ernähren. Das gelingt sicher auch einmal am Tag mit Salat oder den von zu Hause selbst hergestellten und mitgebrachten Trockenfrüchten. Wenn ich aber zu lange warte, überkommt mich der Heißhunger auf etwas Würziges oder auf etwas besonders Süßes wie Schokolade.
Da ich heute zum ersten Mal die neuen Schuhe anhabe, bemerke ich schon beim Absteigen vor dieser abendlichen Raststation, dass sich Blasen auf meiner Fußsohle des linken Fußes gebildet haben.
Trotzdem muss ich mich nach der Pause wieder aufs Rad schwingen, um die letzte Etappe nach Västervik zu bewältigen. Wenn ich mal oben bin, dann geht es auch wieder – aber bis dahin…ohje. Und dazu kommen ja auch noch die wohlbekannte Schmerzen, die einen Langzeitbiker sowieso begleiten: der wunde Popo oder zumindest die aufgeschabten Innenseiten der Oberschenkel. Ich gehe an einem zu Ende gehenden Fahrradtag schon immer sehr behutsam aus dem Sattel, wenn mich das dann nicht selten überkommende Bedürfnis ergreift, im Stehen zu fahren.
Letztendlich erreichen wir kurz vor Einbruch der Dunkelheit Västervik und orientieren uns direkt zum Hauptplatz. Eigentlich die Stadt, die die bisher Meistbelebteste darstellt. Es sind alle Restaurants und Bars gut gefüllt. Wir fragen nach einem Hotel, nachdem das Durchradeln einzelner Straßenzüge nichts Brauchbares ergeben hat. Wo sind eigentlich alle Menschen bzw. Touristen, die wir schon wahrgenommen haben, in der Stadt untergebracht, fragen wir uns. Oder übernachten die in den Restaurants und Bars? Wir erkundigen uns bei einem älteren Herrn, der aus der Hippiezeit übriggeblieben scheint, nach einem Hotel oder Übernachtungsmöglichkeit. Er überlegt lange, als ihm eine besondere Idee einfällt. Ob wir die „Wanderenheme“ bzw. „Resender Rums“ kennen. Wir bejahen. Vor zwei Jahren hatten wir an der schwedischen Westküste ebenfalls das Glück, in einer solchen schlichten Unterkunft nächtigen zu dürfen. Das Thema ist uns also vertraut, und schon deshalb sind wir nicht abgeneigt. Der grauhaarige, vom Leben gezeichnete Mann meint zu wissen, dass da heute sogar noch ein Platz frei wäre, was im August eher ungewöhnlich sei. Er beschreibt uns freundlicherweise den Weg.
Wir finden sofort dorthin. Es liegt etwas außerhalb der Stadt entlang des Hafens in einem eher tristen Gewerbegebiet. Es sind zwei Gebäude, die im üblichen Schweden-Stil, nämlich Holz, gelb und weiß gestrichen, gehalten sind. Ich wähle die Nummer, die auf dem Verandadach des Heimes angegeben ist, und frage nach einem freien Zimmer. Und siehe da – es klappt. Für 550,- € übernachten wir in einem kleinen muffigen Zimmer (oder sind gar wir die Muffelkandidaten?), und ich habe sogar einen (ungeschützten) W-Lan Anschluss, um ins Internet zu kommen. Das Frühstück am nächsten Morgen ist ebenfalls inclusive.
Ich bin von meinen Fußschmerzen, die sich am Abend wieder verstärkt einstellen, nachdem die Wirkung des Schmerzmittels nachlässt, so geschlaucht, dass ich Christian alleine zum Wein trinken am Hafen losziehen lasse, und um 23:30 h völlig ausgelaugt in einen Tiefschlaf falle, der mich nicht einmal bemerken lässt, als Christian von seiner Hafentour zurückkehrt.
Auch die Kraft zum Duschen finde ich nicht mehr. Geschweige denn, an meinem Blog weiter zu arbeiten. Alsbald versinke ich in den Schlaf der Gerechten.
Die Statistik:
166,85 Tageskilometer
08:33:53 h reine Fahrzeit
19,47 ave
920 m Höhenmeter
Immer um den Meerespiegel herum
Strecke: Kalmar – Mönsteras – Oskarshamn – Västervik