6. Etappe: von Västervijk nach Husby Melby (02.08.2011)

Als ich heute Morgen erwache, fühle ich mich frisch, erholt und entspannt. Und das obwohl es im Zimmer nicht besonders gut riecht. Das hat es schon bei unserer Ankunft nicht getan, aber aufgrund der aggressiven Mücken in Schweden hielten wir das Fenster die Nacht über hermetisch abgeriegelt. Und das hat der Atmosphäre im Raum mit Sicherheit nicht gut getan.

Ich gehe Zähneputzen und während ich den langen Gang zum Waschraum entlang schlendere, werfe ich einen Blick in den Frühstücksraum. Kein Mensch zu sehen, aber es sind schon alle Frühstücksaccessoires auf dem Tisch. Christian und ich sind etwa zur gleichen Zeit aufgewacht und er erzählt mir noch, dass er nicht, wie ich vermutet habe, in der Pizzeria gewesen ist, sondern in einer Kneipe direkt am Hafen, um seine drei Gläschen Wein zu trinken. Dort wäre auch noch einiges los gewesen.

Wir begeben uns in den Frühstücksraum. Natürlich sind schon Gäste da, aber sie sitzen alle draußen. Denn es ist schönes Wetter und eine attraktive Terrasse mit wenig anziehenden Möbeln aus dunkel oliv farbigem, abgewetztem Plastik, locken, nach draußen zu gehen.

Wir sind guter Stimmung, reißen ein paar Witze um auch die Muskeln um das Zwerchfell herum ein wenig in Wallung zu versetzen, legen die eine oder andere Kurzmeditation ab, und machen uns anschließend über ein nicht sehr abwechslungsreiches Frühstück her. Es gibt Toast. Dazu steht extra ein alter Toaster mit dem unglaublichen Fassungsvermögen von zwei kompletten Toastscheiben zur Verfügung. Ein Wunder, das nicht schon im morgendlichen Schweden ein Krieg um Nahrung ausbricht. Nein, es bleibt wirklich friedlich. Eine Sorte Wurst und Käse stehen den hungrigen Mägen auch zur Verfügung, sowie ausreichend hartgekochte Eier, wiewohl ich in Schweden bisher nicht ein weichgekochtes Ei an einem Frühstücksbüffet herausgreifen konnte.

Nach dem Frühstück bezahle ich die 550,- skr für uns beide für Übernachtung und Frühstück, alsdann sind wir schnell auf dem Rad und fahren zurück an den Pier von Västervik. Auch heute Morgen sind schon recht viele Leute auf Achse. Wir wollen noch Wasser bzw. Getränke kaufen, aber finden weder Markt noch Tankstelle.

Es gibt eine Zugbrücke, die das Festland mit einer kleinen Insel verbindet, die sich nach Norden erstreckt, und wir entscheiden uns für den Weg über die Insel. Schnell sind wir erstaunt, dass auf dieser wundervollen Strecke so starke Steigungen zu bewältigen sind, dass es schon am Morgen ans Eingemachte geht. Chris, der diesen Sommer wenig Rad gefahren ist und somit nicht besonders gut vorbereitet in unsere Tour ging, spricht immer wieder von seinen „sauren Muskeln“ nach einer Reihe von heftigen Anstiegen.  Ich genieße die Abwechslung, wenngleich ich natürlich auch gehörig ins Schwitzen komme. Die Landschaft ist famos und wirkt lebendig in der Morgensonne.

Nach ca. 35 Kilometern erreichen wir wieder das Festland und zwar den Ort Gamleby. Dieser Name hat übrigens nichts mit einer im Deutschen ähnlich klingenden Lebenseinstellung zu tun. Die Menschen sind rührig hier, natürlich versehen mit der schwedischen Ruhe und Gemächlichkeit, die dieses Land in meinen Augen richtiggehend auszeichnet.

In Gamleby also gehen wir in eine winzige Einkaufsmeile. Ich habe schon gestern eine intuitive Eingebung in Bezug auf eine Besserung meiner Fußbeschwerden gehabt. Dieser folge ich nun und kaufe mir zum Trinken neben Mineralwasser auch eine große Flasche Schweppes Lemon. Eine Kleine davon trinke ich direkt nach dem Bezahlen an der Kasse gleich in einem Zug leer. Irgendwie denke ich, dass das darin enthaltene Chinin mir die Entzündung aus dem Körper treibt. (Einfälle hat man manchmal). Danach gehe ich noch in die auch in dieses Einkaufszentrum integrierte Apotheke, und kaufe mir in weiser Voraussicht eine neue Packung Schmerzmittel.

Als ich Christian nach dem Einkauf auf dem Parkplatz an unseren Rädern wiedertreffe, stellen wir fest, dass – ohne vorhin darüber gesprochen zu haben und ohne uns beim Einkauf gesehen zu haben, also völlig unabhängig voneinander – jeder bereits eine Flasche Schweppes getrunken hat. Wie Zwillinge. Ich stelle besorgt fest, dass ich möglicherweise auch ein Außerirdischer bin.

Wir schwingen uns wieder auf unsere Stahlrösser und wagen uns frisch gestärkt in die neue Etappe.

Zwischendurch kann ich mich immer wieder nur begeistert über die smarte schwedische Landschaft äußern. Und jedem, der einen Urlaub mag am Meer, ohne Stress, aber mit der Möglichkeit zu wandern, frische Luft zu atmen, und dabei mit freundlichen unaufgeregten Einheimischen zu tun zu haben, Schweden ans Herz legen.

Irgendwo in einem kleinen malerischen Örtchen auf unserem Weg finden wir bei Sonnenschein und Hitze einen kleinen Supermarkt, in den wir ohne Umschweife einkehren. Was hier passieren wird, zwar völlig unspektakulär, stellt für mich aber einen kleinen Höhepunkt unserer Reise dar.

Schon von draußen habe ich erkannt, dass es sich hier auch um eine Apotheke handeln soll, und es scheint sogar eine Poststation integriert zu sein. Ich jubiliere innerlich, denn das ist genau das was ich brauche.

Es sind insgesamt wohl nur zwei oder drei Kunden in den Räumen des Marktes. Ich begebe mich sofort an die Kasse des Supermarktes. Dort steht ein Herr in den 50-ern und ich schätze, dass er wohl aus dem asiatischen Raum, vorzugsweise aus dem Irak bzw. Kurdistan stammen könnte. Ich erkläre ihm meine Probleme mit dem Fuß, und frage ihn, ob er eventuell ein homöopathisches Mittel mit dem verheißungsvollen Namen Ruta Graviolens hätte. Dieses Mittel hatte meine heilpraktizierende Schwester mir vor ein paar Tagen empfohlen, nachdem ich ihr meine Symptome am Fuß via Telefon beschrieben hatte. Als er mich verständnislos anblickt, reagiert ein kleiner Junge mit rabenschwarzem Haar, der gleich hinter ihm steht. Er scheint sofort kapiert zu haben was ich meine, und schleppt uns beide zu einem winzigen  Schränkchen, etwa in Köpfhöhe an die Wand gedübelt, in der Nähe des Ausgangs. Ein Schild weist darauf hin, dass sich hier die Apotheke des Ladens befindet. Meine Hoffnung das zu bekommen, was ich mir gewünscht hatte, sinkt von einer Sekunde auf die andere auf den Nullpunkt. Der Immigrant öffnet den Schrank und immerhin bin ich überrascht, ein mir vertrautes Schmerzmittel im  Fundus zu erkennen. Aber damit bin ich ja schon ausreichend ausgestattet.

Also wende ich mich meiner Idee zu, meiner Gefährtin in deren Urlaub eine schöne Lektüre in Form eines Taschenbuchs mit einer Karte zukommen zu lassen. Für die Post, so deuten mir meine neuen Freunde von der Kasse an, wäre ein dritter Insasse des Supermarktes zuständig. Er ist sichtlich gebürtiger Schwede, vielleicht Anfang vierzig, sieht sehr gut aus und schon bei der Äußerung meines Anliegens erkenne ich sein sanftes und gut meinendes Wesen. Er ist freundlich, lächelt, nachdem ich ihm auf Englisch meine Absicht erklärt habe. Spontan zieht er einen Paketumschlag in giftgrüner Farbe heraus, in das mein Taschenbuch und eine Postkarte perfekt Platz finden und auch augenblicklich darin verschwinden.

Ich bitte ihn, das Paket per Express zu schicken, worauf er sofort zum Telefon greift. Von diesem Moment an bekomme ich von Minute zu Minute mehr das Gefühl, dass es besser ist, das Paket selbst nach Deutschland zu bringen, damit es rechtzeitig ankommen kann. Er telefoniert und telefoniert und ich frage mich, über wie viele Themen man bezüglich des Versandes eines Paketes von Schweden nach Deutschland überhaupt reden kann. Jedoch, es nimmt kein Ende. Irgendwann tritt Chris an mich heran. Ich weiß, dass er die Idee hat, heute noch ein paar Kilometer weiter zu fahren. Ich empfinde ein bisschen Stress, aber ich bin so nah dran, jetzt endlich das Päckchen auf den Weg zu bringen. Aber Krischan nimmt das Ganze  auch mit Humor. Wir stehen an dieser Theke des Postschalters und während der Kollege Wissenswertes über den Versand von Päckchen und Paketen im Allgemeinen und per Express ins Ausland im Besonderen in Erfahrung zu bringen versucht, müssen wir herzhaft lachen. Denn es war nicht irgendeine Art von Willkür, wie wir sie schon am Bahnschalter in Budapest oder beim Ticketverkauf in Ramsgate (GB) für die Fähre nach Belgien erlebt haben, wo Menschen einfach keine Lust hatten, bürokratische Wege zu verlassen und ihre Verbohrtheit wirklich genervt hat. Nein. Uns ist klar: dieser Mann hat noch nie ein Paket verschickt und ist wirklich bemüht, alles auf den richtigen Weg zu bringen.

Schließlich bittet er mich hinter den Tresen zu kommen, nachdem nach ungefähr (und ich übertreibe hier nicht) 25 Minuten das Telefonat mit dem ominösen Informanten beendet ist. Ich solle die Adresse des Empfängers in den Computer eingeben. Ich tue nicht nur dies, schreibe auch noch alle Daten auf das Paket und dann- ja dann geht es an die Kasse, denn es müssen noch Briefmarken auf das grüne Etwas. Die Suche in einem grauen Kasten dauert nochmals Minuten, bis das Paket fast vollständig und flächendeckend beklebt ist.

Ich atme auf. Es sieht so aus, als könnten wir vor Einbruch der Dunkelheit weiter fahren. Ich vergesse aber nicht, den Mann noch in nettem Ton, da mich der ganze Vorgang zusammen mit Krisch wirklich herzhaft erfreut hat, danach zu fragen, ob die Zustellung des Paketes genauso lang dauern würde, wie der Versand. Er ist mir überhaupt nicht böse und muss selbst lachen. Er sagt, dass es sein erstes Paket ist, das er heute versendet hat, und dass er zuversichtlich wäre, dass es ganz schnell auf den Weg gebracht würde,  und damit innerhalb  weniger Tage in Deutschland sein Ziel erreicht haben wird.

Nun denn also: die Wasservorräte aufgetankt, einige Dinge erledigt, kann es also an diesem herrlich sonnigen Tag weitergehen. Wir erklimmen die Räder und wollen heute Nörköpping (sprich: Norschöpping) passieren und nach einer Schleife um die Stadt soweit sein, dass es morgen zum Endspurt in Richtung Stockholm gehen kann. An einem Rasthaus, an dem wir schon gegen Mittag eine Pause gemacht haben, erkannten wir eine Möglichkeit, die Schleife um Norköpping auszusparen und mit einer Fähre über eine Ostseezunge, die weit ins Landesinnere reicht, eine gehörige Abkürzung um ca. 25 bis 30 Kilometer zu finden.

In Söderköpping, 16 Kilometer vo Norköpping machen wir erneut Rast. Ich bestelle mir eine wirklich wohlschmeckende vegetarische Pizza, während sich Krisch einige Lebensmittel aus dem angrenzenden Supermarkt holt. Wir erkundigen uns bei einem Mann, ob es wirklich eine Fähre gibt, was er bejaht. Er schränkt nur insofern ein, dass er darüber informiert wäre, dass die Fähre einen Schaden hätte und möglicherweise heute nicht mehr fährt. Aber er meint, dass es eigentlich schon klappen würde und dass die Letzte gegen 22 Uhr ihre Reise ans andere Ufer antritt. Wir haben also genügend Zeit und legen los. Endlich erreichen wir den Ort Hosby Östra und fragen einen Arbeiter, der gerade überdimensionale Plakate aus LKW-Plane aus seinem Pick-Up hievt, um sie an zwei Stangen zu befestigen. Er meint, dass die Fähre einen Schaden hat, und dass in zehn Minuten die letzte Fahrt hinüber geht. Ungefähr sieben Km wäre der Pier von hier entfernt. Fast auf den Knien bitte ich ihn, unsere Räder schnell auf den Pick-Up zu werfen und uns dorthin zu bringen. Aber er meint, die Arbeit rufe und er müsse noch einige Plakate aufhängen. Also treten wir wie die Wilden in die Pedale und legen die sieben Km in Rekordzeit zurück. Und was sehen wir: die Fähre legt gerade am anderen Ufer ab und bewegt sich auf uns zu. Innere Freude und Dankbarkeit keimt in uns auf, die allerdings nicht lange währen wird.

Nach dem Anlegen ca. fünf Minuten später, verlassen zwei Fährschiffer das Boot und auf unsere Nachfrage hin erklären sie den Arbeitstag für beendet. Ich falle fast erneut auf die Knie, und bitte ihn inständig, diese eine Fahrt nicht nur für uns sondern auch für die Dame im Auto hinter uns noch zu machen. Keine Chance. Ein Kleinlastwagen mit zwei Insassen steht auch schon bereit. Sie bringen das Auto auf die Fähre und beginnen sofort mit den Reparaturarbeiten. Es ein Schaden an der Plattform, die für die Auf- und Abfahrt der Fährgäste heruntergefahren wird. Mir kommt der Gedanke an die Riesenfähre Estonia, die Mitte der 90-er Jahre im Ostsee gesunken ist, weil genau diese Plattform nicht geschlossen worden war. Und innerer Frieden kehrt augenblicklich bei mir ein.

Aber was tun. Wir sind in der absoluten Pampa. Müde, erschöpft und wohl wissend, dass wir auf jeden Fall wieder Richtung Hosby fahren müssen. Aber vorher fragen wir eine Dame, die mit ihrem Gatten auf einer Parkbank fast am Ufer des Ostsees sitzt. Es stellt sich heraus, dass die beiden einen Ausflug hierher gemacht haben und ca. 100 km weiter südlich wohnen. Ihr Mann arbeitete vor einigen Jahren in Taufkirchen. Sie spricht sehr gut deutsch. Ihr Mann interessiert sich überhaupt nicht für die neuen deutschen Freunde seiner Frau. Er telefoniert und hält sich die meiste Zeit etwas abseits.

Aber die Frau. Sie ist wirklich engagiert, als wir sie von unserer Unternehmung unterrichten. Sie schaut sich die Karte der Einsamkeit an und beginnt all die wenigen Möglichkeiten nach einer Unterkunft für uns durch zu telefonieren. Ich habe überhaupt keine Erwartung mehr und das ist manchmal auch gut so. Nachdem ich mich erschöpft ins Gras habe fallen lassen und ein paar Fotos geschossen habe, höre ich plötzlich einen sanften Juchzer aus dem Munde der Dame. Sie ist fündig geworden. Es gibt noch ein Zimmer, bed and breakfast. Nur ca. 10 Km von hier. Na, das ist ja mal eine gute Nachricht. Wir bedanken uns inniglich bei ihr und hieven unsere ausgelaugten Körper wieder auf die Räder. Die Adresssuche ist gar nicht so einfach, aber schließlich geben uns zwei Mädchen auf einem Reiterhof Auskunft, wo wir die private Frühstückspension Husby Melby 1 finden können. In dem Moment, als wir in einen Feldweg links einbiegen, um zu dem Gehöft, das wir in einiger Entfernung sehen, kommen zu können, erreicht uns auch schon das Auto der Hausherrin. Sie kurbelt das Fenster herunter und berichtet uns in perfektem Schwedisch, das wir auf dem richtigen Weg wären. Wir fahren weiter und am Hof angekommen begrüßt uns Bosse Svensson, ihr Mann, mit einem kräftigen Händedruck.

Da kommt auch schon Maggan mit dem Auto zurück, und sie führen uns sofort ins Haus,  zeigen uns unser Zimmer. Sie fragen noch nach unseren Wünschen. Ich bekomme ein Glas Wasser, Chris lässt sich aus einem Tetrapack Wein in ein großes milchig-grünes Glas schenken. Als die beiden wieder nach unten gegangen sind, verzieht er auf meine Nachfrage nach dem Geschmack des Weines nur das Gesicht.

Es ist Abend und mein rechter Fuß hat tagsüber seine Arbeit getan. Jetzt schmerzt er wieder und ich bin sehr erschöpft und begebe mich gleich in die Falle. Auch Krischan schläft augenblicklich ein, nachdem er sich auf das Bett gelegt hat.

 

Västervik – Söderköping – Östra Hosby

148,22 Tageskilometer

07:16:24 h reine Fahrzeit

20,37 km/h ave

999 m Höhenmeter

Immer um den Meeresspiegel herum

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