Und wie immer, seit ich mir den Regenponcho gekauft habe: herrlich schönes Wetter. Da ich früh im Bett war und auch ganz gut geschlafen habe, fühle ich mich relativ erfrischt. Wir hatten gestern mit unseren Herbergseltern ausgemacht, dass wir um 08:00 Uhr frühstücken wollen. Als ich den Raum unten in der Küche betrete, steht schon alles bereit für uns. Ich bin überrascht. Maggan Svensson, die Dame des Hauses hat wirklich an alles gedacht. Brot, Wurst, Käse, Tee für mich, Kaffee für Krisch und das möchte ich hier besonders erwähnen: eine ganze Kanne Holundersirupschorle. Die ich ja auch alle ein bis zwei Jahre selbst herstelle und sehr liebe. Da Christian nicht ganz so scharf darauf ist, kann ich die Kanne fast alleine trinken. Was für ein Privileg. Wir essen ausgiebig.
Maggan Svensson setzt sich noch zu uns. Sie und ihr Mann haben wohl nicht so oft Gäste am Hof. Ist auch kein Wunder in dieser gottverlassenen Gegend. Die Werbung der beiden kann man auch nicht gerade als aggressiv bezeichnen. Den ersten wirklichen Hinweis auf die Bed & Breakfast Einrichtung der Familie Svensson fanden wir gestern, als wir schon weit von der Straße in den Feldweg zum Hof eingebogen waren. Von einer Straße übrigens, die am Tag vielleicht 100 Autos befahren.
Obwohl sie kein Wort englisch spricht und wir immer noch nicht schwedisch gelernt haben, sagt sie immer wieder etwas und lacht dann ganz heftig. Wir gehen davon aus: sie meint es nicht böse, sondern freut sich über die unerwarteten Gäste. Eins wird allerdings ganz klar, weil sie mit dem Finger darauf deutet: wie stolz sie auf ihre Blumen auf der Fensterbank ist. Mehrere Töpfe der wundervollen Gattung der Orchidee stehen da in lila und weißen Prachtfarben. Und genau dazu passen auch die Vorhänge mit lila Blumenmustern vor pastellfarbenem Hintergrund. Alles in allem ein schwedisches Idyll. Auch in unserem Schlafzimmer hängen sichtlich ältere Fotos von Kindern vor dem Hintergrund des Bauernhofes, auf dem wir uns befinden.
Später kommt zu Maggan noch ihr Gatte Bosse hinzu, der ein paar Brocken englisch spricht. Ich frage um Erlaubnis für ein Foto. Bereitwillig setzen sich die beiden vor das Fenster, auf dessen Bank die wunderschönen Orchideen stehen. Leider ist das Gegenlicht so stark, dass es kaum Sinn macht, die beiden Euch vorzustellen. Ich probiere es auf jeden Fall mal (s. Foto).
Da wir aufbrechen wollen und die Zeit für ein professionelles Fotoshooting nicht mehr ausreicht, stelle ich dafür noch das etwas verschwommene Bild des Gesprächs meines Kumpels mit dem alten Herrn Svensson ein.
So ganz nebenbei erwähnt dieser, dass die Fähre um 09:00 Uhr und dann wieder um 09:30 Uhr gehen wird. Wir verlieren also schon wieder eine halbe Stunde am Morgen, denn es ist jetzt 08:45 Uhr und es sind knapp zehn Km zu radeln zur Fähranlegestelle. Aber wir lassen uns dieses Mal nicht hetzen, nutzen die Zeit um uns gemütlich einzufahren. Als wir unten am Meer ankommen sind, legt die knallgelb-orange Fähre gerade auf der anderen Seite ab. Sehr schnell ist sie an unserem Ufer, an dem sich nun doch einige PKWs und auch Motorradfahrer angesammelt haben und geduldig warten.
Die Energie Schwedens verlangsamt irgendwie den Lebensrhythmus. Alles läuft ein wenig ruhiger und gemächlicher ab. Das tut der eigenen Seele gut. Auch als die Fähre angelegt hat, heißt das noch lange nicht, dass sich der Balken für uns öffnet. Erst müssen wir noch mal 5 oder zehn Minuten warten, ehe die Auffahrt freigegeben wird. Wir sind als erste auf dem Boot und fahren ganz an das andere Ende. Der Blick auf das Meer ist phänomenal. Christian schwärmt wiederholt für das spezielle Licht Skandinaviens, für das in Deutschland heimische Fotographen Stunden bräuchten, um es vor Fotosessions künstlich zu erzeugen.
Wir orientieren uns nun in Richtung Nyköpping (auch hier Nyschöpping gesprochen). Die schwedische Dame mit Traunsteiner Emigrationshintergrund erklärte uns gestern, dass Orte mit dem Anhängsel „köpping“ früher Orte in der Größe zwischen Dörfern und Städten und Märkte waren. Hier wurde Handel getrieben, „köpping heißt nichts anderes als „shoppen“, also „einkaufen“).
Nach der Überfahrt geht es einige Kilometer ständig echt steil bergauf und wir müssen ganz langsam machen, um uns nicht schon am frühen Morgen zu überanstrengen. Es geht gut 100 Höhenmeter nach oben. Darauf folgt wieder eine hügelige Landschaft, in der es dann 20 Kilometer vorwiegend inmitten von Wäldern entlanggeht, durch die aber die Sonne sehr gut durchkommt und uns ein wenig wärmen kann.
Durch die kurze Fährpassage haben wir uns wirklich ca. 30 Kilometer gespart. Da wir mit etwa 160 Kilometern bis Stockholm rechnen und in der Frühe eine halbe Stunde durch die spätere Fähre schon verloren haben, sind wir nicht traurig, dass wir Norköpping links liegen lassen. Die nächsten kurzfristigen Ziele heißen Jönáker und Nyköpping.
Irgendwann nach etwa 20 Kilometern Fahrt verlieren wir die am Morgen mühsam aufgebauten Höhenmeter binnen weniger Minuten. Plötzlich geht es ein paar Kilometer weit nur bergab. Die Räder laufen zwischen 40 und 60 km/h. Das ist auch anstrengend und in einem kurzen Moment nachlassender Konzentration gerate ich mit meinem Rad vom Teer ab zwischen die kleine schwarze Rinne neben der Straße und dem Beginn der Grünzone. Ich erschrecke fürchterlich, kann das Vorderrad bei hohem Tempo just anheben und wieder auf den asphaltierten Bereich hieven. Das geht mir ein Adrenalinstoß durch den Körper.
Nun geht es schnell weiter in Richtung Nyköpping. Jönáker stellt sich als ganz kleines Nest heraus, in seinem Umfeld umgeben von riesigen Kornfeldern und Bauernhöfen, die sich hinter dem Getreide zu verstecken scheinen. In Schweden ist der rigorose Einsatz von Pestiziden auf den Feldern wohl ein Fremdwort. Anders kann ich mir die von Kornblumen übersäten, blau schimmernden Weizenfelder nicht erklären. Viele Erinnerungen an meine Kindheit kommen da hoch, als auch bei uns in Bayern der Klatschmohn und die Kornblume Symbole für den Sommer waren. Als zur Erntezeit und hin zum Beginn unserer Sommerferien der blaue Sommerhimmel der Spiegel für die Getreidefelder zu sein schien.
All das und noch viel mehr beschäftigt mich, während wir ganz plötzlich den Randbezirk von Nyköpping erreichen. Der aufkeimende Verkehr und das Passieren eines Industrie – und Einkaufszentrums lässt darauf schließen, dass es sich hierbei doch um eine größere Ansiedlung handelt. Wir müssen unsere Tanks neu befüllen und als ich einen Supermarkt in der Nähe entdecke, deute ich Chris, der gerade hinter mir fährt, die Richtung. Er zeigt mir wiederum an, wie ich mich im erreichten Kreisverkehr orientieren solle, damit wir dorthin kommen könnten. Es stellt sich heraus, dass dies der „falsche“ Weg ist, der uns jedoch direkt ins Zentrum führt. Wir lassen das geschehen und entdecken ein tolles Städtchen Nyköpping.
Es ist schön da, die Fußgängerzone so einladend, dass wir beschließen, obwohl es noch nicht mal Mittag ist, schon um 11:30 Uhr in einem netten Restaurant uns einen tollen Salat am Büffet anrichten zu lassen, den wir dann draußen mit großer Begeisterung verzehren. Dabei ratschend die Menschen und das Treiben rings um uns beobachtend.
Ich entdecke noch einen Markt, wo ich leichte Sommerhosen, wie ich sie liebe und sonst nur in Italien auf Märkten kaufen kann, sehe. Ich überlege mir eine Weile, ob ich mir eine oder zwei davon kaufen kann, prüfe durch Anheben deren Gewicht. Der Gedanke an 17 Kilo Gepäck bringt mich davon ab, zuzugreifen. Ich mache ein paar Fotos und wir radeln raus aus der Stadt. Wir haben uns also um alles gekümmert, außer um die Trinkvorräte an unseren Fahrrädern und vergessen das irgendwie. Dabei geht es sofort wieder steil bergauf. Als wir den Höhepunkt und damit den Stadtrand erreicht haben, befinden wir uns urplötzlich parallel zur Autobahn, sehen das giftgrüne Schild: Stockholm 98 Km.
Wir bleiben natürlich auf der Landstraße und rechnen mit etwa 20 Kilometern mehr. Wir orientieren uns an Södertälje, eine in unserer Karte größer eingezeichnete Ortschaft in ca. 80 Km Entfernung. Es ist heiß heute, die Bergstrecken hören nicht auf. Ich habe bald unendlich Durst, Chris geht es wohl nicht anders. Wir strampeln uns die Hügel rauf und runter, haben immer mal wieder die Autobahn in Sichtweite. Als ich gerade am verzweifeln bin, weil einfach keine Ortschaft mit einer Einkaufsmöglichkeit kommt und schon wieder eine beachtlicher Anstieg zu bewältigen ist, sehen wir aus Bäumen eine Tankstellensäule in den Himmel ragen, die zweifelsohne zu einer Raststätte der Autobahn gehört. Glücklicherweise gibt es eine Einfahrt auch von der Hinterseite hin zu unserer Straße. Auf allen Vieren robben wir zum Kühlregal und nehmen Flüssigkeiten heraus, die wir beinahe gleich vor dem Bezahlen ausgetrunken hätten. Schließlich stärken wir uns draußen in der Nähe der Benzinzapfsäulen, nehmen noch einen Vorrat mit auf die Räder und starten wieder los.
Als wir Södertälje erreichen, ist es schon wieder Zeit, ein Geschäft aufzusuchen. Jetzt wissen wir, dass Stockholm in greifbarer Nähe liegt. Die Suburbs werden wir wohl in 30 bis 40 Km erreichen. Ich kaufe mir Kekse schwedischer Bauart, mit Heidelbeerfüllung, die schon irgendwie ein bisschen industriell schmecken. Aber das ist mir bei Unterzucker egal. Zuvor habe ich mir Wassereis mit Kolageschmack gekauft, das tut bei dieser Hitze gut. Krisch ist heute wesentlich besser in Form. Mich haben die Fußschmerzen der letzten Tage, die immer noch andauern und mit Tabletten bekämpft werden, doch ein bisschen zermürbt. Ich hinke hinter ihm her.
Als es einen Aufstieg entlang geht, komme ich plötzlich mit dem Vorderrad ins Schwimmen. Ich diagnostiziere, dass es sich um Spurrillen in der Straße handelt, fahre weiter. Als es mich plötzlich fasst hinwirft, beim nächsten Versuch, einen Hügel zu erklimmen. Ich steige ab und Christian, der hinter mir fährt kommt heran und fragt, was los sei. Wir schauen uns das Vorderrad an, nachdem ich ihm mein Problem geschildert habe und siehe da: ein Reisnagel – wie extra für mich ausgelegt, steckt im Reifen, einem „unkaputtbaren“ Mantel, wie mir der Radhändler vermittelt hatte, weil eine dicke Gummischicht um die höchste Stelle am Mantel verhindern soll, dass genau das passiert, was mich in meiner Schlappheit gerade total ärgert. Ich glaube, ich würde mich jetzt an den Straßenrand setzen und hier campieren. Aber Chris lässt das natürlich nicht zu. Er fordert mich auf, die Bepackung vom Rad zu nehmen. Dann macht er sich schnell daran, das Rad zu drehen. Auch jetzt kann ich ihm nur ein wenig assistieren, und in Windeseile ist mein Rad wieder flottgemacht.
Es geht weiter und nach wenig Strecke merke ich, dass mein Tacho nicht mehr arbeitet. Ich halte an und prüfe, was beim Radwechsel passiert ist, wo eine Verschiebung zwischen Sender und Empfänger des drahtlosen Gerätes passiert sei. Selbst Krisch kann keine Lösung finden und irgendwie müssen wir auch weiter, wollen wir noch vor der Dämmerung in Stockholm sein. Das passt zur Energie meines Tages. Als alter Statistiker ärgert mich der Ausfall meines Tachos maßlos. Ich bin sowieso erschöpft und kraftlos, und dann auch noch das.
Einziger Trost ist, dass ich sehe, dass der Höhenmesser noch funktioniert und Christian ja auch einen Kilometerzähler am Rad hat.
Nach einigen Steigungen, viel Natur, langsam sich belebenden Straßen und größeren Ortschaften kommen wir Stockholm immer näher. Wir haben es für uns noch nicht ausgeschlossen, dass wir, wenn es möglich ist, noch eine Fähre nach Helsinki nehmen. Deshalb suchen wir gleich den Weg zum Zentrum bzw. zum Hafen. Immer wieder müssen wir fragen und nette Schweden geben mehr oder weniger hilfreiche Auskünfte. Es geht dann durchaus noch mal ca. 20 Kilometer durch die Stadt, ehe wir im Zentrum landen. Wir sind überwältigt von der Schönheit. Obwohl ich meine gehört zu haben, Stockholm hätte nur 500.000 Einwohner, hat man das Gefühl, in einer Metropole zu sein. Wundervolle Gebäude, wuselndes Leben. An der Mole der Viking Reederei stellen wir fest, dass es keine Verbindung an diesem Tag mehr nach Helsinki geben wird. Die Abfertigung einer anderen Reederei, der Silja Line, ist viele Kilometer entfernt in einem vollkommen anderen Gebiet und Hafen von Stockholm. Wir erfragen uns dorthin und stellen fest, dass auch diese Linie erst morgen wieder ein Angebot nach Helsinki im Programm hat.
Es ist nun fast dunkel und wir benötigen ein Hotel. Auf der Rückfahrt ins Zentrum hilft uns ein junger Mann, der uns eine Unterkunft in der Nähe nennen kann. Schnell haben wir es dank seiner perfekten Beschreibung gefunden. Der Portier – übrigens vom Aussehen her eine Mischung zwischen einem Freund von Krisch und Ex-Bundesgesundheitsminister Rößler, behält die Contenance, als er uns verschwitzte, erschöpfte Kerle in das Vier-Sterne-Hotel eintreten sieht. Er äußert sich positiv über die Verfügbarkeit eines Zimmers. Der Preis ist ok und uns eigentlich in diesem Moment sowieso egal.
Wir tragen unsere Sachen ins Zimmer, nachdem er uns den Keller der Hotels für unsere Räder geöffnet hat. Ich nehme alle verschwitzten und gebrauchten Kleidungsstücke aus meinem Rucksack, gebe ein paar Tropfen Rei in der Tube ins Waschbecken und wasche alle diese in der Hoffnung, dass sie bis morgen wieder trocken sind.
Dann begebe ich mich mit Christian wieder an die Rezeption. Mittlerweile dient dort ein anderer Herr den Gästen. Er wäre bereit, den Computer für eine Online-Buchung einer Fähre für morgen zur Verfügung zu stellen, nachdem ich das im Zimmer mit meinem PC ja schon versucht habe, aber keinen Beleg ausdrucken konnte.
Er sagt nur, dass online meistens sowieso nichts funktioniere. Er soll Recht behalten. Es gibt keine Chance, die Buchung auch nur annähernd zu Ende zu führen. Aber schon während der ganzen Prozedur erkennen wir, auf welch interessanten und lustigen Vogel wir dort an der Rezeption getroffen sind. Er holt uns Wein und Bier aus der bereits geschlossenen Bar. Da in der Lounge wenig los ist, gesellt er sich zu unserer Sitzgruppe, in die wir uns erschöpft haben fallen lassen. Dann beginnt ein spannender und witziger Dialog mit einem interessanten Menschen, der es sichtlich auch genießt, die Arbeitszeit mit uns versüßt zu bekommen. Es wird zum ersten Mal richtig spät auf unserer Reise und gegen 01:45 Uhr falle ich vollkommen erschöpft ins Bett.
Statistik:
Der Tacho ist am späten Nachmittag ausgefallen. Die Werte können nur teilweise angegeben werden.
174 km Tageskilometer
1311 m Höhenmeter