9. Etappe: Fähre nach Helsinki bzw. Aufenthalt in Helsinki (05.08.2011)

Von gesundem, erholsamem Schlaf kann ich heute Morgen nicht berichten. Es ist kalt auf den klimatisierten Schiffen und da ich weder Unterlage noch etwas zum Zudecken dabei habe, fror ich gewaltig auf dem Teppich des Schiffbodens. Außerdem lässt mir mein Fuß keine Ruhe. Er ist gewaltig geschwollen.

Wir erreichen Helsinki pünktlich auf die Minute um 09:00 Uhr morgens. Das Wetter ist prächtig, leicht bewölkt zwar und ein frischer Wind wehend. Der Blick vom xten Stock des Schiffes auf die Stadt herunter ist beeindruckend. Ich kann mich aber des Gefühls hier schon nicht erwehren, dass irgendetwas Schweres auf dieser Stadt lastet. Meine erster Gedanke ist: die russische Seele, das schwere russische Gemüt. Aber wir sind doch in Finnland.

Wir verlassen unser Schiff und treffen zuerst auf einen Marktplatz ganz in der Nähe der Anlegestelle unseres Schiffes. Überall begrüßen uns orange-farbene leinenüberdachte Stände voller Essensangebote. Da gibt es allerlei Leckereien mit Lachs, Fisch, Krabben und Kartoffeln, dann auch asiatisch-spanisch gemischte Speisen wie eine Gemüsepaella. Auch Rentierfleisch darf nicht fehlen.

Da es noch früh am Tage ist, begeben wir uns erst mal ein Stück weiter durch den Markt. Da werden Pelzmützen verkauft, die meine Gedanken von Russland von vorhin noch mal verstärken. Und viel Gemüse wie Bohnen, Karotten und Tomaten. Auch Obst, nämlich Himbeeren, Blaubeeren in rauen Mengen und nicht gerade billig. Diese blauen Beeren sind so riesig, dass mir  erneut Russland, speziell Tschernobyl und die atomare Strahlung in den Sinn kommen.

Die Menschen laufen kreuz und quer und ich habe das Gefühl – das mir Christian wenig später auch bestätigt – dass jeder so vor sich hintritt und hindenkt, ohne wirklich auf seinen Nächsten zu achten. Wir überqueren eine Straße, setzen uns an einen Stand, der den letzten Ausläufer des Marktes darstellt. Vorher war ich noch in einer Apotheke an einer Ecke und frage nach homöopathischen Mitteln gegen meine Beinbeschwerden. Ein junger Mitarbeiter der Apotheke erklärt mir, dass es eine einzige Apotheke in Helsinki gäbe, die solche Mittel hat, aber die wäre einige Kilometer entfernt von hier. Er nennt mir Namen, Adresse, vielleicht auch noch die U-Bahn Haltestelle, aber der geneigte Leser kann sich vorstellen, dass ein Neuankömmling in Finnland, der finnischen Sprache sowieso nicht mächtig, erhebliche Schwierigkeiten haben kann, ausgesprochene Straßennamen, Namen von Plätzen oder Metrostationen überhaupt zu verstehen, geschweige denn zu behalten.

Also doch erstmal das Frühstück. Ein Süßteilchen, das zwar 2,50 € teuer ist, aber nach 1,-€ Industriegebäck schmeckt.  Aber ich kann wieder eine Dosis Schmerztabletten einnehmen, nachdem das ja auf nüchternen Namen nicht zu empfehlen ist. Das Betrachten meines rechten Fußes bereitet mir Kummer. Er schmerzt nicht nur heftig, sondern ist richtig dick angeschwollen und ich merke, wie erste Gedanken an eine Rückreise an diesem Tag immer mehr Raum gewinnen. Aber ich weiß auch, dass das richtige homöopathische Mittel bewirken kann, dass die Probleme innerhalb zweier Stunden beseitigt sein können.

Aber dazu gehört nicht nur Glück, sondern erstmal eine Apotheke, die diese Mittel auch vorrätig hat.

Ich schiebe mein Fahrrad nochmals über den Markt, als Krisch mir andeutet, dass eine Frau sich für ihn interessiert, besonders aber für seine Waden, die sie bewundernd betrachtet. Diese sind wirklich bemerkenswert dick und während unserer Fahrt auch sehr muskulös geworden. Ich kann die Dame verstehen. Je mehr die Tage voranschritten, habe ich die Entwicklung der enormen Muskeln beobachten dürfen, wenn ich hinter Chris hergefahren bin. Das einzige, was bei mir sich entwickelt hat, ist mein dicker rechter Fuß.

Kurze Zeit darauf drehe ich meinen Kopf nach hinten, weil ich Stimmen höre und sehe Chris im Gespräch mit jener Frau. Als ich ihn nach dem Inhalt ihrer Worte später befrage, meint er nur, sie wäre interessiert daran, eine Fahrradreise zu unternehmen und hätte ihm dazu ein paar Fragen gestellt. Sie ist dunkelhaarig und hat asiatische Gesichtszüge. Sie lächelt freundlich in die Gegend und schwatzt jetzt gerade mit ihrer Begleiterin. Auch die Damen der Schöpfung habe so ihre Mittel, mit ihren Auserwählten in Kontakt zu kommen.

Krisch und ich tasten uns mit unseren Fahrrädern ein wenig ins Stadtinnere, passieren einen Park, um danach wieder in die Nähe des Marktes zurückzukehren. Dort befindet sich an einer Straßenecke das Tourismusbüro. Ich trete ein und frage einen Herrn nach den Fährhäfen und nach der besagten Apotheke.

Dieser Mann mittleren Alters und mit wenig Haaren auf dem Kopf hat wohl schon mehr sein Rentendasein im Kopf. Er ist nicht eben freundlich, gibt mir aber die gewünschten Infos. Ich mache mich also mit Christian auf den Weg zur ominösen und einzigartigen Apotheke Helsinkis, die in einem runden Haus angesiedelt sein soll.

Auf dem Weg trennen wir uns und ich radle weiter ins Landesinnere. Endlich komme ich an dem denkwürdigen, sagenumwobenen, großen und runden Haus an, in dem sich die Apotheke befinden soll. Ich umkurve das rundherum aus Glas gebaute Wahrzeichen Helsinkis und finde tatsächlich auf der gegenüberliegenden Seite den pharmazeutischen Betrieb. Es ist wenig los im Geschäft als ich eintrete und mich einem Herrn an einem Schalter zuwende. Er heißt mich, eine andere Ecke der Apotheke aufzusuchen, wo eine Homöopathin mich beraten würde.

Die Dame ist auch schnell am Tresen und ich versuche ihr auf Englisch meine Wehwehchen zu erklären. Da mir das in der englischen Sprache sichtlich schwer fällt, fragt sie mich plötzlich, ob wir uns denn nicht in meiner Landesprache unterhalten können. Überrascht gebe ich mich als deutscher Staatsbürger zu erkennen. Im gleichen Moment wechselt Camila in perfektes Deutsch über und alles ist nun ganz leicht. Dieser finnische Engel bemüht sich ausführlich, das richtige Mittel für mich zu finden. Als ich sie nach ihrer Email Adresse frage, weil ich ihr anbieten möchte meinen Blog zu lesen, gibt sie mir ihre Visitenkarte. Ich bin überrascht, weil sich der Name nicht finnisch liest. Sie erzählt mir, dass sie zu einer in  Finnland lebenden 7%-en schwedischen Minderheit gehöre.  Sie wünscht mir alles Gute und an der Kasse bezahle ich über 40,-€ für drei Medikamente.

Auf meine erstaunte Nachfrage, meint der Mann an der Kasse nur lapidar, dass solcherlei Produkte in Finnland eben teurer seien als anderswo in Europa. Humorloser Typ, klar, aber was kann ich schon tun. Ich bin froh, einen kleinen Hoffnungsschimmer für die Fortsetzung meiner Reise in den Händen zu halten. Ich nehme auch sofort ein Kügelchen ein – und hoffe.

Es geht zum Treffpunkt zurück und ich setze mich mit Krisch in die Sonne. Mein Fuß wird auch in den kommenden zwei Stunden nicht besser und wir haben bereits ca. 14 Uhr. Ich entscheide mich, das zweite Mittel zu probieren. Dann zwei Stunden warten. Die Schmerzen zwingen mich etwas langsamer zu tun. Ich bemerke, wie es auch in Christian arbeitet. Wenn er alleine weiterfahren müsste. Er besitzt sogar ein Visum für Kaliningrad, und hätte eigentlich sogar Lust mit dem Fahrrad die ca. 1000 Km bis Danzig zu fahren. Er möchte auf jeden Fall aber Tallinn sehen.

Auch ich schwanke ständig. Jetzt bin ich soweit geradelt und stehe am Tor zum Baltikum. Die Fähre benötigt noch zwei Stunden bis Tallinn. Soll ich nach Hause fahren oder wenigstens noch nach Estland übersetzen. Wenn es dann nicht ginge, könnte ich ja nach Helsinki zurück und zwei Tage später mit der Fähre fahren.

Ich schaue mir die Fahrpläne der Fähren an und stelle mit Erschütterung fest, dass zwar morgen und übermorgen Fähren von Finnland nach Rostock auslaufen, dass diese aber zwei Nächte und einen Tag unterwegs sind. Das Schiff heute um 19 Uhr würde mich binnen eines Tages nach Rostock bringen. Die Wettervorhersage für die kommenden Tage im Baltikum ist mehr als schlecht. Bis zu sechs Windstärken aus Süden und Regen.

Und mein Fuß wird und wird nicht besser. Chris ist noch mal in die Stadt gefahren, um Fotos zu machen. Wir verabreden uns gegen 16:30 Uhr. Ich nehme Platz an der Hausmauer der Tourist-Info, an der ein paar Stühle und Tische platziert sind. Im Laufe der nächsten Stunde entscheide ich mich, den Weg nach Hause anzutreten. Als Krisch pünktlich wieder eintrifft, teile ich ihm das mit. Wir betreten die Infostelle und ich gehe davon aus, dass es nun kein Problem ist, das Ticket nach Rostock zu buchen.

Die Dame am Schalter ist aber der Meinung, dass sie mir keine Karte mehr verkaufen kann. Ich bin erstaunt, denn Anfragen im Laufe des Nachmittags lauteten immer positiv. Ja, es gäbe noch Tickets. Nun meint sie aber, es wäre zu spät, und die einzige Möglichkeit wäre, am Hafen direkt zu buchen. Kein Problem sage ich, das tu ich. Sie meint, dass der Hafen aber ca. 20 Kilometer entfernt ist. Wir haben 17 Uhr und um 18 Uhr schließt der Check-In dort. Jetzt wird es also stressig. Ich bitte darum mir ein Taxi zu bestellen, das auch ein Fahrrad transportieren kann. Ich bekomme die Auskunft, dass das Taxi in etwa 20 Minuten kommen wird. Das wird knapp. Wir haben nun schon 10 nach Fünf. Aber urplötzlich hält draußen ein Mercedes Sprinter und ein Mann um die Fünfzig springt heraus. Schnell stellt sich heraus, dass er nichts anderes im Sinn hat, als mich rechtzeitig zum Hafen zu bringen. Ich verstaue mein Bike im Fahrgastraum und setze mich dazu.

Die Verabschiedung von Krisch verläuft nun kurz und schmerzlos, nachdem er mir den Schlüssel seines Autos überlassen hat. Das ist auch gut so, denn die Reise war wirklich super, wir haben uns prächtig verstanden, und anders wäre sicher auch eine große Traurigkeit in mir aufgestiegen.

Ich habe nicht viele Finnen kennengelernt, aber sie sind alle sehr nett. Der Taxichauffeur fährt zügig und meine Blicke auf die Uhr, die mir in riesigen roten digitalen Lettern die Zeit mitteilt, schreitet erbarmungslos voran, während mein tapferer Finne und Fahrer sich durch den Verkehr Helsinkis quält. Er redet unablässig, und weil er so überaus zuvorkommend und freundlich ist, bedauere ich es ein wenig, dass ich mich so schlecht auf ihn und das Gesagte konzentrieren kann. Am Ende unserer Fahrt, meint er dass ich immer und zu jederzeit herzlich willkommen in Helsinki sei und er sich freue, wenn ich wiederkäme.

Wir schaffen es rechtzeitig und ich bekomme das ersehnte Billet nach Rostock. Ich fahre ganz nach vorne an der Warteschlange vorbei und treffe auf zwei Radler. Es stellt sich heraus, dass die beiden (Vater und Sohn) gerade das Baltikum von Klaipeda nach Tallinn durchfahren haben. Somit erfahre ich einiges Wissenswertes über die Strecke, die ich mit Chris zusammen ursprünglich entdecken wollte. Sie äußern sich eher sachlich denn enthusiastisch über das Baltikum, so dass ich meinen Abbruch nicht wirklich bereue. Pünktlich um kurz vor sieben Uhr werden wir auf die Fähre geleitet, die dann auch zeitnah ausläuft.

Das war noch richtig Stress am Abend, aber nun bin ich gut gelandet. Es sind noch ein paar Radfahrer auf dem Schiff und zufällig haben wir uns alle in einem kleinen Raum mit ca. 25 Pullmannsitzen im Bauch des Schiffes eingefunden.

Ich habe Hunger und obwohl ich kaum laufen kann, buche ich ein Abendessen an Bord. Ich bin überrascht, denn was auf dieser Fähre am Büffet aufgefahren wird, sucht seinesgleichen. Für 24 € schlage ich mir den Magen voll und mache mir anschließend doch merklich Sorgen über meinen Gesundheitszustand. Mein Fuß wird immer dicker und schmerzt gewaltig. So sehr, dass ich am Abend an die Rezeption trete und nach dem Schiffsarzt frage.

Leider ist keiner an Bord. Ich humple zur Bar. Einer Bardame erkläre ich kurz mein Dilemma. Wortlos verschwindet sie in der Kombüse und kommt mit einem riesigen Sack Eisbeutel, eingehüllt in zwei Plastiktüten zurück. Ich begebe mich in ein menschenleeres Cafe und genieße die wohltuende Kälte auf meinem rechten Fuß.

Es ist spät geworden, als ich mich in den Schiffsbauch zu meinen Kollegen orientiere. Alle schlafen schon, aber nicht wie erwartet in den Pullmannsitzen, sondern ausnahmslos am Boden. Es ist wie immer saukalt hier. Auch ich lege mich an den Boden. Nicht, dass es unerträglich kalt ist, sondern es liegen auch noch zwei Kilo Eis auf meinem rechten Fuß. Trotzdem gelingt es mir, die eine oder andere Stunde Schlaf zu finden.

 

Statistik:

9,57 Tageskilometer

00:55:54 h reine Fahrzeit

10,23 km/h ave

34 m Tageshöhe

16 m maximale Höhe über NN

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