Der Blick aus dem Fenster am heutigen Morgen gibt mir das Gefühl, dass es draußen saukalt sein muss. Es ist bewölkt. Diese Information genügt in diesem Sommer. Das verdirbt mir die Lust aufs Radeln schon bevor es überhaupt losgeht.

Meine Freunde werden fast zeitgleich wach, erledigen ihre Morgentoilette und machen mich auf das Frühstück aufmerksam, zu dem sie sich gleich begeben werden.
Das hilft. Ich raffe mich auf, versuche einen kurzen Überblick über meine über einem Stuhl und einer Holzkommode verstreuten Sachen zu gewinnen, um meine kleine weiße Reisezahnbürste zu orten.

Nach meinem Auftritt in unserem Badezimmer eile ich nach unten, meinen Freunden nach in den Frühstücksraum. Dort sitzen nicht wie gestern Abend vermutet an jedem Tisch die Gäste. Außer Christian und Oldo am Ende des winzigen Saales gibt es nur ein Pärchen, das zur selben Zeit sein Frühstück einnimmt wie wir. Und erstaunlich auch: für fünf Personen kümmern sich zwei ganz junge Damen, die uns an der Theke, an der auch das Büffet aufgebaut ist, individuell bedienen.
Ich nehme vom Rührei, ansonsten Joghurt und eine Semmel mit Butter und Marmelade, die in einem winzigen Gläschen mit Schraubverschluss abgefüllt ist. Dem Klimawandel sei Dank: zum ersten Mal in meinem Leben ist die Konfitüre nicht in eine winzige runde Plastikbox gepresst worden, die der Laie ohne eine gewisse Fingerfertigkeit kaum zu öffnen vermag. So schwierig, dass der eine oder andere verzweifelt zum Müsli greift und sich Milch drauf schüttet, oder doch ein paar Scheiben Wurst auf die Semmel wuchtet, damit der morgendliche Appetit schnell bearbeitet werden kann.
Nach dem Frühstück fahren Oldo und Krischan zum örtlichen Fahrradhändler. Christian hat nach etlichen Pannen keine intakten Schläuche mehr zur Verfügung, und möchte seine dünnen Reifen bzw. Mäntel, die bei den horrend schlechten Bodenverhältnissen dazu neigen, die darunter liegenden Schläuche zu zerstören, durch den Zukauf von Neuen seelisch zu beruhigen.


Vor der Türe unserer Unterkunft, die wir bereits um 10 Uhr morgens räumen müssen, wird dann einer der neu gekauften schwarzen Luftröhren unter den wenig interessierten Augen vorbeigehender Passanten montiert. Um exakt 11:30 Uhr nehmen wir Fahrt auf in Richtung des Städtchens Louny. Es liegt in etwa 25 Kilometer entfernt von unserem Ausgangspunkt Kadan. Schnell geht es nach der Stadtgrenze bergauf. Wir kämpfen uns steile 100 Höhenmeter nach oben. Die kühlen Außentemperaturen nehmen wir nicht mehr wahr. Das ist das Gute an steilen Aufstiegen.


Wir kommen auf eine Anhöhe oder Hochebene, von der aus wir einen guten Blick auf einen riesigen Stausee, der aus der Eger hervorgeht, haben. Da wir in den vergangenen Tagen Probleme mit der Beschaffenheit des Untergrundes des Radweges Nr. 6 hatten (Schlamm, sehr steile Anstiege auf spitzen Steinen, etc.) haben wir gestern beschlossen, einen großen Teil der Strecke auf der Landstraße zu absolvieren. Endlich werden wir belohnt. Nach dem steilen Aufstieg folgt ein fast zehn Kilometer langes Hinabrollen nach Zatec (sprich: tschatez).

Eine Stadt, die wie die meisten größeren Einwohneransammlungen in Tschechien einen tollen Kern haben, der in einem Rechteck neben bunt bemalten Häusern Kirche, Cafés, Läden und Restaurants beherbergt. In der Mitte zumeist eine hohe Statue mit den Helden und eingravierten Heldentaten aus früheren Jahrhunderten.

Wir stellen die Räder ab und stecken die Köpfe zusammen. Wie soll es weitergehen? Auf den Besuch eines Cafés verzichten wir. Ich watschle über den Platz und hole mir eine Flasche Wasser als Proviant aus dem Lebensmittelladen gegenüber, den eine Vietnamesin führt. Ein winziges Geschäft, vollgepfropft mit Lebensmitteln aller Art.

Die wenigen Kunden tragen Maske. Die Geschäftsführerin nicht. Als ich mein Wasser abstelle, um zu bezahlen, nimmt sie während des Vorgangs aus einer mit Reis und Fleisch gefüllten Schale ihr Mittagessen ein. Ziemlich cool, und im bürokratisch-hygienischen Deutschland ein No-Go.

Wir fahren weiter nach Louny. Die Landschaft ist weniger erwähnenswert, die Umgebung erinnert mich an einen Besuch vor längst vergangener Zeit vor der Wende in der damaligen Tschechoslowakei. Alte und verfallene Häuser, schlechte Straßen. Auf dem Weg dorthin fahren wir für zwei Kilometer an der Eger entlang. Es wird wieder etwas schlammig und steinig.

Plötzlich sehen Oldo und ich den vorausfahrenden Christian schon wieder stehend sein Rad umdrehen. Er wird doch nicht schon wieder einen Platten haben. Und wahrlich: zum dritten mal auf dieser Reise halten seine dünnen Mäntel den schwierigen Untergründen nicht stand.

Und wieder flucht der Gute über die schlechte Qualität der neumodernen Mäntel, die so hart sind, dass man sie nach dem Schlauchwechsel kaum mehr aufziehen kann. Und auch über die Qualität der Schläuche, deren vier Nähte höchst empfindlich gegen Schläge sind.
Und so kommt es (aus Erfahrung) wie es kommen muss: beim Eindrücken des Mantels nach erfolgtem Schlauchwechsel zerstört Krisch den neuen Gummischlauch. Wieder muss der gewechselt werden. Nun versucht sich Oldo, in dem er wie schon zwei Tage zuvor mit seinem Schuh versucht, den Mantel sanft nach innen zu drücken, so dass der Schlauch nicht in Mitleidenschaft durch eine Kunststoffzange gezogen wird. Und – es klappt. Christian schwört, weiterhin nur noch auf Straßen mit Teerbelag zu fahren. Und schon nach etwa einem Kilometer erfüllt sich sein Wunsch. Von da an bis nach Louny gibt es keine Probleme mehr. Wir lassen die Räder rollen und kommen gegen 16 Uhr in Louny an, um dort eine Kaffeepause einzulegen.



Am Tisch des Cafés liegen neben unseren kulinarischen Bestellungen wie Kaffee oder Eis unsere Handys aus, mit denen jeder von uns versucht, ein Hotel in etwa 20 Kilometer Entfernung zu finden, die wir eigentlich heute noch fahren wollen, um unserem (mittlerweile geändertem Ziel Neratovice bei Prag) noch ein Stückchen näher zu kommen.

Da jedoch in dieser Entfernung keine Pension weit und breit zu finden ist, das ein Zimmer frei hätte, entschließen wir uns, in einem Hotel hier in Louny einzuchecken.
Mittlerweile haben wir auch einen Gast an unseren Tisch bekommen. Stefan aus Gerolzhofen, der mit einem vollbepackten Dreirad unterwegs zu seiner Tochter nach Lüneburg ist, leistet uns Gesellschaft. Mit den Worten: „kann ich mich zu euch setzen?“ und „keine Angst, ich bin geimpft!“ setzt er sich blitzschnell an unseren Tisch. Er ist sehr rede- und sprachgewandt, immer freundlich lächelnd. Er wirkt etwas älter als unser Dreier-Durchschnitt und meint, dass er an beginnender Demenz leide. Was wir so im Laufe des Tages aus seiner Vergangenheit erfahren, lässt auf jeden Fall auf eine Fehldiagnose seinerseits schließen.

Wir erfahren, dass er 72 Jahre alt ist, auf seinem Käppi steht „geimpft“. Dazu sagt er, dass er seit Beginn seiner Reise in jedem Hotel seinen Impfausweis zeigen musste. Das ist uns noch nicht passiert. Nur im Aqua-Forum in Franzensbad mussten wir unsere Ausweise vorzeigen.
Ich schaue mir sein Fahrrad an. Ein Dreirad, so wie ich es auch zu fahren pflege. Er hat vier Fahnen dazu gehängt, erzählt uns auch um deren Bewandtnis, an die ich mich jeweils nicht mehr erinnern kann. Seine Verwandtschaft mache sich Sorgen um ihn, weil sein Handy nicht funktioniere und er schlecht erreichbar sei, bzw. vor allem er seine Liebsten nicht anrufen könne. Mittlerweile hätte er aber Kontakt zu seinem Bruder gehabt und da dieser netzwerkmäßig verbunden wäre, seien nun alle beruhigt, erzählt er uns.


Eigentlich wolle er zum Geburtstag seiner Tochter Ende August bei ihr in Lüneburg sein. Der „Feiertag“ sei ihm eigentlich egal, also – wenn er denn später ankommen würde – aber auf die herausragenden Kochkünste seines Nachkömmlings freue er sich ungemein.

Zumal er nach dem Tod seiner Frau und als Rentner nur im Bett liegen würde und er im Liegen seine Sammlungen zur Geschichte der Gauklerkunst aus dem vorvergangenen Jahrhundert archivieren würde. Er selbst sähe sich hier am besten dargestellt wie der „Arme Poet“ von Spitzweg – nur ohne Regenschirm. Ich verweise ihn darauf, dass Carl Spitzweg einen Teil seiner Schaffenskunst auch in meinem Heimatort Dachau erstellt hat.

Von da an war das Band zwischen uns untrennbar verknüpft.
Nachdem auch er keine Übernachtungsmöglichkeit hat, nehmen wir uns alle zusammen ein Zimmer im örtlichen Hotel.
Nach dem Verstauen unserer Räder und dem Duschen treffen wir uns im Gastgarten zu einem köstlichen Abendessen, begleitet von einer mir unbekannten Biersorte Krusice und einem langen Gespräch mit unserem neuen Freund Stefan, der uns vieles aus seinem Leben erzählt, von den Kochkünsten seiner Tochter, von seinem kleinen Bauernhof, in dem er mit Flüchtlingen in Gerolzhofen zusammenlebt, sowie seiner Expertise als „Panorama-Papst“. Panorama, so erklärt er uns, sei eine Kunstform aus dem vorvergangenen Jahrhundert.

Weil Christian müde ist, verabschiedet er sich eine knappe Stunde vor Oldo und mir von Stefan und begibt sich auf sein etwas düsteres Zimmer. Das Hotel ist eher einfach gestrickt, allerdings die Überwachungsmöglichkeiten sind hinlänglich installiert.

Was wir heute geschafft haben:
Kilometer: 50,15 km
Höhenmeter: 341 hm
Durchschnitt: 17,04 km/h
Gefahrene Zeit: 177 Minuten